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„Ich habe im Praktikum gelernt, dass ich viel gelernt habe“

Die meisten Behörden und Ämter wissen gar nicht, dass sie durch uns viel Zeit und Geld sparen. Und dass wir dazu beitragen können, Vorurteile und Klischees abzubauen. Im Praktikum konnte ich das kultursensible Dolmetschen nicht wirklich anwenden, aber ich habe viel Integrationsarbeit gemacht.

24.01.2012 von Irma Wagner

Die 42-jährige Fatma Sezek ist kurdischer Abstammung und kam 1975 aus der Türkei nach Deutschland. Erst hat sie eine Ausbildung im Einzelhandel angefangen und dann auf Bürokauffrau umgeschult. Sie hat zwei Kinder im Alter von 18 und 15 Jahren und ist seit 2009 alleinerziehende Mutter.

Wie und wann sind Sie zu der Fortbildung als Sprach- und Integrationsmittlerin gekommen?

Nach meiner Trennung 2009 habe ich Hartz IV beantragt, aber gleich gesagt, dass ich so schnell wie möglich arbeiten möchte. Dann habe ich zweimal die Woche einen Eingliederungskurs besucht und danach einen Ein-Euro-Job in einer Schule als Aushilfslehrerin für sechs Monate ausgeübt. Das war sehr schön, dort wäre ich gerne geblieben. Dann hat man mir auf dem Amt von der Fortbildung zum Sprach- und Integrationsmittler erzählt und gemeint, das wäre was für mich. Und dann habe ich das Auswahlverfahren und den Einstellungstest bei bikup mitgemacht und wurde angenommen. So bin ich also durch die Sachbearbeiterin beim Jobcenter hier her gekommen.

Sind Sie mit der Fortbildung zufrieden?

Ja sehr! Ich bedauere, dass es das vor 20 Jahren noch nicht gab.

Können Sie das Wissen, was Sie hier erworben haben, auch im Alltag anwenden?

Ja, vor allem die Bereiche aus der soziokulturellen und interkulturellen Kommunikation.

Und jetzt machen Sie ein Praktikum bei agisra, der „Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung“?

Das Praktikum hat bis Freitag letzter Woche gedauert. Insgesamt also sechs Wochen und jetzt mache ich hier bei bikup noch für zwei Wochen ein Praktikum im organisatorischen Bereich.

Wie sind Sie zu agisra gekommen? Haben Sie sich das Praktikum selbst ausgesucht oder ist das über bikup gelaufen?

agisra hatte eine türkischsprachige Praktikantin bei bikup angefragt. Ich wollte eigentlich in den Gesundheitsbereich, aber dann bin ich dort gelandet und es war sehr schön.

Was haben Sie dort gemacht?

Ich habe hauptsächlich sprachliche Begleitung von Klientinnen gemacht. Überwiegend bulgarische Frauen, die alle türkisch sprechen. Ich habe sie zu Ämtern begleitet, mich mit ihnen um die Aufenthaltsbescheinigungen gekümmert, das Jobcenter besucht, sie zu Untersuchungen bei Ärzten begleitet und so weiter. Ich habe viel über das EU-Abkommen zwischen Deutschland und Bulgarien gelernt. Ich habe aber auch einer Frau aus Ghana geholfen, ihren Aufenthalt im Hotel zu verlängern. Ich musste sie zum Frauenarzt begleiten, und ihr bei der Erstausstattung ihres Baby zur Seite stehen – halt Sozialarbeit.

Haben Sie denn als Sprach- und Integrationsmittlerin gearbeitet?

Ja, klar. Wir haben ja gelernt, wie die deutschen Ämter und Behörden aufgebaut sind und wie man mit denen kommunizieren muss. Und das konnte ich während meiner Tätigkeit bei agisra einsetzten. Ich war sehr zufrieden und die Mitarbeiterinnen von agisra waren auch ganz zufrieden mit mir – auch die Klientinnen. Ich habe denen ja auch immer erklärt, wie das in Deutschland alles gehandhabt wird, und wo ihre Rechte, aber auch Pflichten sind.

Gab es auch mal Situationen, wo Sie an Grenzen gestoßen sind?

Ja! Die Bulgarinnen haben sich einfach nicht an die verabredeten Zeiten gehalten. Und ich musste immer wieder hinterher telefonieren. Einmal war ich echt wütend. Ich habe geschimpft und ihnen klar gemacht, dass sie in Deutschland sind und hier Pünktlichkeit zählt. Auf dem Land in Bulgarien mussten sie sich nicht an feste Uhrzeiten halten. Aber jetzt müssen sie einfach kapieren, wie Deutschland funktioniert.

Und aus welchen Gründen sind diese Frauen bei agisra?

Die meisten Bulgarinnen, weil sie finanzielle Unterstützung brauchen oder eine Wohnung und Hilfe bei der Versorgung von ihren Kindern. Und die meisten Türkinnen wegen häuslicher Gewalt. Und einige aus dem Ostblock wegen Menschenhandel und Sklaverei. Ich hab mich schon gewundert, dass es 2012 mitten in Europa noch Sklaverei gibt. Auch die Arroganz, mit der man den Frauen von Seiten der Behörden gegenübertritt, hat mich traurig gemacht. Da habe ich dann aber ganz klar interveniert und gesagt: ‚Momentmal, so geht das nicht, das ist ihr gutes Recht.‘

Ist die Praktikumsphase während der Fortbildung eine wichtige Phase?

Das, was wir hier theoretisch gelernt haben, hat im Praktikum Form angenommen. Vorher war nur reines Wissen im Kopf und jetzt weiß ich, es anzuwenden. Ich weiß jetzt, was ich mit dem Wissen machen kann. Ich habe im Praktikum gelernt, dass ich viel gelernt habe.

Besteht denn die Möglichkeit, dass Sie nach der Fortbildung bei agisra arbeiten können?

Die Sachbearbeiterin, die für mich zuständig war, sagte mir, dass sie mich am liebsten sofort einstellen würde, aber es sind keine finanziellen Mittel da. Sie hat viele Aufträge und hat mit alle Angelegenheiten anvertraut, bei denen man türkisch sprechen musste.

Können Sie sich jetzt auch ein klareres Bild von dem Beruf des Sprach- und Integrationsmittlers machen?

Ja, ich habe gemerkt, dass wir wirklich nötig sind. Viele arbeiten noch mit klassischen Dolmetschern, die sehen aber das eigentliche Problem nicht immer. Die Behörden und Ämter wissen gar nicht, dass sie durch uns viel Zeit und Geld sparen. Und dass wir dazu beitragen können, Vorurteile und Klischees abzubauen. Im Praktikum konnte ich das kultursensible Dolmetschen nicht wirklich anwenden, aber ich habe viel Integrationsarbeit gemacht. Ich habe halt erklärt, wie Deutschland funktioniert. Wie Ämter und Behörden funktionieren und welche Gesetze es gibt. Ich musste ihnen zum Beispiel sagen, du hast dieses und jenes Recht, aber vorher musst du einen Antrag stellen. Ich musste den deutschen Behörden weniger die Kultur der Bulgarinnen erklären, sondern eher umgekehrt.

Was müsste man tun, um den Beruf des Sprach-und Integrationsmittlers noch mehr publik zu machen?

Noch mehr an die Öffentlichkeit gehen. Institute einladen zu bikup, um ihnen unsere Arbeit vorstellen zu können.

Haben Sie denn bei agisra für bikup geworben?

agisra ist ohnehin von bikup begeistert, und ich habe sie darin bestärkt und bestätigt. Wir haben in der Fortbildung auch einfach gelernt, wie man professionell vermittelt und eine Brücke schafft. Und ich kann jetzt sagen, ja wir sind Profis.

Worin sehen Sie Ihre jetzige Professionalität?

Ich habe auch früher viel gedolmetscht, aber hier bei der Fortbildung habe ich mir ein Fachwissen angeeignet. Ich musste früher meinen Vater zu Arztterminen begleiten und dolmetschen und ich habe mich einfach geschämt, die Dinge beim Namen zu nennen. Da muss man die Fachbegriffe kennen. Und einmal musste ich als 12-Jährige in eine Psychiatrie, um für einen Nachbarn, der sich umbringen wollte, zu übersetzen. Als ich auf dem Flur saß, kam ein anderer auf mich zu, der Flugzeuge hörte und meinte die Russen kämen. Ich war völlig überfordert und weiß ehrlich gesagt nicht mehr genau, was ich da gedolmetscht habe. Aber jetzt, kenne ich die richtige Terminologie und weiß, wie ich mich in bestimmten Situationen gegenüber den Menschen, zwischen denen ich vermittle, zu verhalten habe.


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